Mittwoch, 6. November 2019

Vom Duell zu „Ich sags meinem Papa“



Mich hat in Video inspiriert, über unsere Gesellschaft nachzudenken:

Hier bei einem Vortrag 2016
Jonathan Haidt hält eine Vorlesung über: The Rise of VICTIMHOOD Culture on Campus - Seeing People as GOOD or EVIL 

Vor einigen hundert Jahren lebten wir in einer „Kultur der Ehre“: Wer mich beleidigt, den muss ich zum Duell fordern. Ich werde mich nicht selbst erniedrigen, indem ich zu einer anderen Autorität petzen gehe, z.B. zu einem Richter. Ich regle meine Dinge wie ein Mann, nämlich selbst. Das Duell war kultiviert: Man nahm nicht einfach ein Messer und stach zu, man warf den Fehdehandschuh.

Im 19. Jahrhundert änderte sich unsere Kultur in Richtung „Kultur der Würde“. Ich bin in meiner Würde nicht von anderen abhängig. Du kannst mich nicht beleidigen. „Der Hund bellt, die Karawane zieht weiter“, oder um es mit einem Zitat aus dem Film „ Ghandi“ zu sagen: Ihr könnt mich ins Gefängnis werfen, aber meinen Geist bekommt Ihr nicht.
Das Gegenteil davon wäre: Wenn ich alles persönlich nehme, habe ich ein ganz schön stressiges Leben. Ich muss dann andauernd Duelle führen. Da ist es schon besser, wenn ich großzügig über Beleidigungen hinwegsehe.

Seit einigen Jahren gibt es eine Rückentwicklung in eine moderne Form der „Kultur der Ehre“, Haidt nennt sie „Victimhood Culture“  Die „Kultur des Opfers“. Menschen werden wieder extrem intolerant gegenüber „Beleidigungen“, sogar gegen unbeabsichtigte und unbewusste. Der Unterschied zur alten Kultur der Ehre: Man regelt es nicht mehr selbst, sondern man wendet sich an irgendeine Autorität.

Eine sehr wesentliche Entwicklung ist noch dazugekommen: Es ist üblich, sich für andere massiv einzusetzen. Indem man sich für andere Opfergruppen einsetzt, steigt der soziale Status. Mir ist aufgefallen, wie viele Likes jene Männer bekommen, die sich für Frauenrechte einsetzen.
Der Nachteil besteht für Haidt darin, dass die Menschen in „gut“ und „böse“ eingeteilt werden. Wer ist für die Minderheit, wer ist gegen die Minderheit. Es ist nicht mehr das Problem von nur den Opfern und den Tätern, nein, die Bevölkerung steht auf und setzt sich für die einen ein, worauf sich der andere Teil der Bevölkerung für die anderen einsetzt. Dies erlebe ich in unserer Gesellschaft, wo die Frage „Bist Du für Flüchtlinge oder gegen“ sogar Familien spalten konnte bis hin, dass die Leute nicht mehr miteinander reden.

Ein weiterer Nachteil: Man wird übervorsichtig. Die Angst jemandem auf den Fuß zu treten ist allgegenwärtig. Wenn ich an der Uni Vorlesungen halte, ist ein guter Teil meiner Aufmerksamkeit, alles zu gendern, hier keinen Fehler zu machen, weil ich sofort mit einer Beschwerde bei irgendeiner Kommission rechnen muss, die mir Schwierigkeiten macht. Die Leute stehen eben nicht auf und konfrontieren mich („zum Duell“), sie rennen zum Papa, zum Vorgesetzten.
Seit den 1990er Jahren gibt es drei Gruppen (die es in meiner Jugend nicht gegeben hat), die die politische Diskussion dominieren bis hin zu einer „Unkritisierbarkeit“ (im englischen „sacred“):

  • 1.      Schwarze

  • 2.      Frauen

  • 3.      LGBT (Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender), erweitert durch das *-Geschlecht.

In Europa würde ich noch hinzufügen:

  • 4.      Die Juden.

Witze über diese Gruppen sind streng verpönt.
Vor wenigen Jahren sind 5. Migranten im Allgemeinen und 6. Moslems im Speziellen dazugekommen. Den Islam zu kritisieren ist z.B. in Ländern, die Facebookzensur haben (wie z.B. Deutschland) zu einem No-Go geworden.
Diese Entwicklung geht einher mit einer dramatischen Abnahme der Selbstverantwortung. In meiner Jugend gab es die Idee, jemand anderer könnte schuld sein, nicht. Wer einen Unfall hatte, war selbst schuld. Die Idee, man könnte jemand anderen klagen, tauchte erst viel später auf.
Ich kannte den Begriff der Selbst- oder Eigenverantwortung nicht, weil es das andere nicht gab: Es war sonnenklar, dass ich für meinen Blödsinn verantwortlich bin. 

Das hat sich dramatisch umgekehrt, Jeder von uns kennt Fälle, wo jemand glasklar selbst an einem Schaden schuld ist, aber dennoch versucht, einen anderen zu finden – das oft mit Erfolg! Unsere Richter unterstützen das. Kind fällt vom Baum, der Baum ist schuld und wird in einen Zaun gesperrt. Und die Kindergärtnerin bekommt eine Strafe, weil sie das Kind nicht abgehalten hatte, auf den Baum zu klettern. Wollen wir in so einer Gesellschaft leben? Ich nicht, aber leider die Mehrheit schon.
In Ausbildungen gleitet bei Sicherheitsthemen sehr rasch das Gespräch in juristische Fragen ab: Die Sorge, ich könnte angeklagt werden ist wesentlich größer als die Sorge, meine Schützlinge könnten sterben.
In alle diese Kulturveränderungen passen die Helokoptereltern, die seit den 1990er Jahren versuchen, die Kinder vor allem Bösen zu schützen – obwohl sie dadurch ihre Kinder zu völlig unresistenten Wesen machen: Das passiert schon beim Auskochen der Flascherl und Desinfizieren von allem, das mit dem Baby in Berührung kommt und endet bei der Beschwerde beim Stadtschulrat über irgendeine diskriminierende Äußerung eines Lehrers.
Die Resistenz von Menschen wächst mit der Exposition. Das Immunsystem wird schwach bei „desinfizierten“ Kindern, Knochen, die nicht belastet werden, brechen leichter, Menschen, denen nicht beigebracht wird, wie sie Beleidigungen abstreifen, werden verweichlicht. Das ist die Idee dahinter.
Verweichlichte Kinder werden zu Nörglern und in weiterer Folge zu Tyrannen.
Resilienz wäre das Gegenteil. Ein Trend allerdings, der sich nicht durchsetzen kann, denn schon biegen die Rasenmähereltern ums Eck, die ihren Kindern sämtliche Hindernisse aus dem Weg räumen.
Ist vielleicht was dran?
Wir leben in Österreich in den sichersten Zeiten der Geschichte, in einem der sichersten Länder der Welt. Wir machen daraus ein Reich der Angst, wo man sehr vorsichtig sein muss. Wäre es nicht schöner, die Sicherheit zu genießen? Da müssten wir aber ein paar Tendenzen umdrehen.
Vor allem unsere Kinder anders erziehen.

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